Über türkische Solidarität mit der Ukraine und Pragmatismus

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Die ARD-Korrespondentin Karin Senz arbeitet in der Türkei, im Iran und Zypern. Am Donnerstag, 10. März, ist sie zu Gast bei der Reihe Wortgewaltig und spricht über die „Zwei Gesichter der Türkei“.
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Die ARD-Korrespondentin Karin Senz kommt nach Aalen. Im Interview wirft sie auch einen Blick auf das aktuelle türkisch-russische Verhältnis.

Aalen

Der Krieg in der Ukraine, er beschäftigt auch die Menschen in der Türkei. Das berichtet die ARD-Korrespondentin Karin Senz im Telefoninterview. Noch sitzt die gebürtige Nördlingerin, die ab 1994 bei der SDZ volontierte, in ihrem Büro in Teheran, wo sie zeitweise auch arbeitet. Am Donnerstag, 10. März wird sie dann aber live vor Ort sein bei der Reihe „Wortgewaltig“ im Kulturbahnhof Aalen. Thema des Abends: „Die zwei Gesichter der Türkei“. Auch darum ging es im Vorabinterview mit Karin Senz.

Frau Senz, Sie haben als Korrespondentin Ihren Wohnsitz in Istanbul, waren bis vor kurzem dort. Wie nehmen die Menschen denn dort den Krieg in der Ukraine wahr?

Karin Senz: Die Türken haben enge Bande zu Russland, aber auch zur Ukraine. Die größte Gruppe an Touristen kommt aus Russland, danach aus Deutschland und der Ukraine. Gerade hatte eine Erholungsphase in diesem Bereich begonnen. Man kann fast schon von einer Art Goldgräberstimmung sprechen. Jetzt ist Krieg und wenn beide Gruppen einbrechen, ist das wirtschaftlich schlecht. Aber es gibt daneben auch viel menschliche Anteilnahme, viel Solidarität vor allem mit der Ukraine.

Erdogan gilt hierzulande als Putin-Freund. Wie erklärt sich seine nach Außen getragene Neutralität?

Das wird immer als Freundschaft dargestellt. Aber das ist es nicht. Es ist eher eine pragmatische, eine Geschäftsbeziehung. Wenn es beiden nutzt, arbeitet man zusammen. Als die Türkei 2015 ein russisches Kampfflugzeug abgeschossen hat, kamen keine Touristen mehr, wurden Flüge und der Güterverkehr teilweise gestoppt. Da war Eiszeit angesagt zwischen den beiden. Nach ein paar Monaten hat sich Erdogan etwas kleinlaut entschuldigt. Konflikte gab es auch in Nordsyrien und vor ein paar Monaten um die Region Bergkarabach zwischen Aserbaidschan und Armenien. Da hat man sich zusammengerauft aus Pragmatismus. Die wichtigste militärische Verbindung ist aber das S-400-Raketenabwehrsystem. Das hat die Türkei vor ein paar Jahren von den Russen gekauft, obwohl sie zur Nato gehört. Diese ist dagegen Sturm gelaufen, es gab massiven Druck. Die Nato sieht das System als ein Mittel Putins, die Türkei aus dem Bündnis herauszueisen. Das System ist bisher allerdings noch nicht betriebsbereit. Daran sieht man: das Verhältnis zwischen Russland und der Türkei ist komplex. Da bin sehr überrascht, wie deutlich sich Erdogan jetzt zur Nato und Ukraine bekennt, denn die Türkei hängt ein stückweit von Russland ab. Man bezieht Gas und Öl und unter anderem bis zu 80 Prozent des Weizens von dort.

Im Moment scheint es dort ruhig zu sein. Trügt dieser Eindruck?

Ich frage mich, wie die Türken leben können. Die Inflation liegt bei 50 Prozent. Ich kenne Türken, die 250 Euro im Monat verdienen. Ein Liter Milch kostet aber mit 60 Cent fast so viel wie in Deutschland. Das haut nicht mehr hin. Es gibt Proteste, aber keine großen. Faszinierend ist, wie die Menschen sich trotzdem über Wasser halten. Irgendeiner hat dann doch immer noch etwas Geld. Das zirkuliert, in dem es der, der es hat, demjenigen gibt, der es braucht. Ohne Schriftstücke, nur mit der Gewissheit, dass er auch Hilfe bekommt, wenn er sie mal braucht. Ein schöner Charakterzug, den ich sonst so nicht kenne. Aber auch in der Türkei gibt es Menschen, die sehr viel Geld haben. Die Schere klafft immer weiter auseinander. Früher konnten Türken im Ausland Urlaub machen. Das geht heute auch mit mittlerem Gehalt nicht mehr.

Sie haben sich als Journalistin die Aufgabe gestellt, den Menschen zu erklären, warum die Türkei so tickt, wie sie tickt. Warum?

Es gibt ein sehr einseitiges Bild, weil Erdogan stark polarisiert. Ich will ihn nicht verteidigen, aber die Türkei hat mehr Gesichter. Wenn ich nach Deutschland komme, werde ich gefragt, ob man dorthin noch in den Urlaub fahren kann. Ja, sage ich. Auf jeden Fall. Man darf nicht vergessen: 50 Prozent haben Erdogan nicht gewählt. Kappadokien, eine Landschaft, die salopp gesagt, aussieht wie Schlumpfhausen, die türkische Ägäis, der lykische Weg, der Berg Ararat, die archäologischen Stätten abseits der Touristenattraktionen, dazu die unglaubliche Gastfreundschaft der Menschen, das alles lohnt sich, zu erleben. Dazu kommt das Miteinander in bester Freundschaft, das verschleierte Mädchen, das mit der Freundin, die einen kurzen Rock trägt, zusammensitzt. Das Land braucht eine Regierung, die zusammenführt. Die nicht spaltet. Weil das drin ist in den Menschen dort.

Wie gefährlich ist es für sie dort als Journalistin in der Türkei?

Ich habe bisher keine negativen Erfahrungen gemacht. Diskussionen führe ich immer wieder, immer auf einem anständigen Level. Es geht vor allem auch um die Frage, warum die EU die Türkei nicht als Mitglied haben will. Zurecht. Am Anfang habe ich mich unwohler gefühlt, das kommt manchmal hoch, aber wirklich Angst habe ich nicht. Man muss seine Berichterstattung, seine Quellen, seine Aussagen noch genauer überdenken. Eben mal schnell was raushauen, um Stimmung zum machen, davon halte ich mich fern.

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