Ursula von der Leyen will neue Präsidentin der EU-Kommission werden. Vor der Wahl stellte sie sich einer Anhörung der politischen Konkurrenz. Dabei ging es um Klimaschutz, Migration, Brexit und EU-Erweiterung.
Brüssel - Mehr Demokratie in der Europäischen Union, ein neues Klimaziel für 2030, ein Mindestlohn in jedem EU-Staat: Ursula von der Leyen hat am Mittwoch erstmals ihre Ziele für den Fall ihrer Wahl zur Präsidentin der EU-Kommission präsentiert. Dabei skizzierte sie Pläne für die Klima-, Sozial-, Migrations- und Sicherheitspolitik und betonte den Einsatz für Grundwerte und den Rechtsstaat. Drastische Kurswechsel zur Politik der vergangenen Jahre sind nicht erkennbar. Allerdings ging sie in einigen Punkten deutlich über bekannte christdemokratische Positionen hinaus. Auf viele Fragen antwortete sie jedoch eher ausweichend.
Die CDU-Politikerin war in der vergangenen Woche überraschend von den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union für die Nachfolge von EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker nominiert worden. In der Position würde sie die großen Linien und Prioritäten der EU mitbestimmen. Sie wäre Chefin von mehr als 30.000 Mitarbeitern in der Kommission, die auch für die Einhaltung von EU-Recht zuständig ist.
Am Dienstag soll über Personalie abgestimmt werden
Das Europaparlament stimmt voraussichtlich am kommenden Dienstag über die Personalie ab. Da die Mehrheit noch nicht sicher ist, wirbt von der Leyen um die Unterstützung der Abgeordneten der großen Fraktionen. Die Liberalen und die Grünen übertrugen ihr Treffen mit der Kandidatin live.
Beim Klimaschutz kündigte von der Leyen an, sich für Klimaneutralität bis 2050 einsetzen zu wollen. Dies bedeutet, Emissionen drastisch zurückzufahren und den Rest auszugleichen, etwa durch Aufforstung oder Speicherung. Die EU-Staaten hatten sich zuletzt nicht darauf einigen können. Auch kurzfristig will von der Leyen sich für deutlich verschärfte Ziele einsetzen. Eine Verminderung der Treibhausgase um 50 Prozent bis 2030 sei möglich. Bisher hat sich die EU für das Jahr 2030 eine Minderung der Klimagase um 40 Prozent vorgenommen, gemessen an 1990. Konkret sprach sie sich für die Einbindung des Flug-, Schiffs- und Straßenverkehrs in den europäischen Emissionshandel aus.
Von der Leyen will in jedem EU-Land einen Mindestlohn haben
Auch beim sozialen Themen kündigte von der Leyen Entgegenkommen an. Sie werde für einen Mindestlohn in jedem EU-Land kämpfen. Jemand, der Vollzeit arbeite, müsse davon seinen Lebensunterhalt bestreiten können. Damit griff von der Leyen eine Forderung unter anderem der Sozialdemokraten aus dem Europawahlkampf auf. Auch eine Arbeitslosenrückversicherung stellte sie in Aussicht.
In Sachen Migration will von der Leyen sich für gemeinsame Regeln bei Asyl und Einwanderung starkmachen. Es müsse übergreifende Regeln dafür geben, wer Anspruch auf Asyl habe und wer nicht. Die blockierte Reform der Dublin-Regeln müsse „mit aller Kraft“ angegangen werden. In den Herkunftsländern der Migranten müsse die Situation verbessert werden. Für eine eigene EU-Mission zur Seenotrettung sprach von der Leyen sich hingegen nicht aus.
Großbritannien soll Zeit für Brexit bekommen
Beim Brexit zeigte sie sich offen für eine weitere Verschiebung des britischen EU-Austritts. Wenn Großbritannien mehr Zeit brauche, um dem vorliegenden Brexit-Vertrag zuzustimmen, dann halte sie das für richtig. Von der Leyen betonte mehrfach, dass sie sich einen Verbleib der Briten wünsche. Der Brexit musste bereits zwei Mal verschoben werden, weil das britische Parlament weder einem Ausscheiden ohne Abkommen noch dem mit Brüssel ausgehandelten Deal zustimmen wollte. Derzeit ist der Brexit für Ende Oktober geplant. Den vorliegenden Brexit-Vertrag bezeichnete von der Leyen als „guten Deal“.
Sie plädierte außerdem dafür, Pläne für eine „Armee der Europäer“ voranzutreiben. Mit Blick auf die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik sagte sie: „Ich glaube, es ist Zeit, dass Europa mehr Verantwortung übernimmt.“ In der Außenpolitik will sie, dass künftig Entscheidungen im Rat der EU-Staaten nicht nur einstimmig getroffen werden können. So soll die EU im Krisenfall schneller reagieren können.
Plädoyer für Erweiterung der EU in Richtung Osten
Die Eurozone und die kontrollfreie Schengenzone sollten aus Sicht der Kandidatin weitere EU-Staaten aufnehmen, sobald sie die Bedingungen dafür erfüllen. Sie plädierte zudem dafür, die Tür der EU für Länder in Osteuropa und auf dem Balkan offen zu halten. Speziell Nordmazedonien bezeichnete von der Leyen als leuchtendes Beispiel. „Ich bin überzeugt, dass wir den Westbalkan viel ernster nehmen müssen“, sagte sie.
In Teilen des Parlaments gibt es Widerstand gegen die Wahl von der Leyens. Dies liegt vor allem daran, dass sie nicht als Spitzenkandidatin ihrer Partei im Europawahlkampf angetreten war. Eine Mehrheit des Europaparlaments hatte sich eigentlich darauf festgelegt, nur einen Spitzenkandidaten zu wählen. Von der Leyen kündigte nun an, sich für ein neues Spitzenkandidatenmodell starkmachen zu wollen. Es brauche ein Modell, das sowohl vom Parlament als auch von den Staats- und Regierungschefs akzeptiert werde. Darüber hinaus unterstützte sie die Forderung der Liberalen nach einer Demokratie-Konferenz zur Reform der EU. Sie sprach von breit angelegten Bürgerdialogen, die in Gesetze münden sollen.
Fraktionen halten sich verschiedene Optionen offen
Festlegen, ob sie von der Leyen kommende Woche wählen werden, wollten sich die Fraktionen nach den Anhörungen noch nicht. Dies hänge davon ab, ob von der Leyen ihre Forderungen aufnehme, sagte der liberale Fraktionschef Dacian Ciolos. Vor allem bei den Grünen erfuhr von der Leyen jedoch deutlichen Gegenwind. Immer wieder hakten die Abgeordneten nach und beklagten, die CDU-Politikerin antworte nicht auf ihre Fragen.
Die Sozialdemokraten hielten sich ihre Zustimmung nach ihrem Treffen mit von der Leyen weiter offen. „Unsere Gruppe wird erneut über die Wahl beraten. Wir werden nächste Woche eine Entscheidung treffen“, kündigte Fraktionschefin Iratxe García Pérez nach ihrem Treffen mit von der Leyen an. Vor allem die 16 deutschen SPD-Abgeordneten im Europaparlament lehnen die Wahl von der Leyens ab. SPD-Europapolitiker Jens Geier beklagte am Mittwoch, von der Leyen sei wolkig geblieben. „Konkrete Zusagen sind größtenteils ausgeblieben oder hinter unseren Forderungen zurückgeblieben.“
dpa