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„Niemand hat mit einem solchen Ausmaß an Grausamkeit gerechnet“

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Von: Lucas Maier

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Andy Milburn, Kommandant der „Mozart“-Gruppe, spricht über die Strategie Russlands im Ukraine-Krieg und erläutert, was der Westen nun tun muss.

Andy Milburn, Sie sind Kommandant der sogenannten Mozart-Gruppe. Was hat Sie in die Ukraine gebracht?

Anfangs bin ich als freier Journalist in die Ukraine gegangen. Das war in der ersten Märzwoche. Sehr schnell wurde mir klar, dass ich in an anderer Stelle dringender gebraucht werde. Ein befreundeter Oberst der ukrainischen Spezialkräfte hat mich um Unterstützung gebeten. Zu der Zeit begann Russland mit der Belagerung von Kiew

Sie waren selbst in Kiew zu dieser Zeit. Was war die größte Herausforderung?

Am Anfang des russischen Überfalls lag die Verteidigung im Wesentlichen in den Händen von Zivilisten. Viele wissen das nicht, aber die territorialen Verteidigungseinheiten rekrutierten sich aus der zivilen Bevölkerung. Nicht das ukrainische Militär hat die russischen Soldaten und Panzer aufgehalten und sie am Ende vertrieben, das waren die normalen Leute. Zwei Wochen zuvor waren sie noch Studierende oder Angestellte.

Das ukrainische Militär sah sich nicht nur mit dem russischen Angriff konfrontiert, sondern musste auch die Einheiten der territorialen Verteidigung kampffähig bekommen. Sie mussten bei null anfangen und zunächst lernen, wie man mit den Waffen umgeht. Das galt für die Standardausrüstung genauso wie für spezielle Systeme wie Panzerabwehrwaffen. Letztere spielten bei der Verteidigung von Kiew eine entscheidende Rolle. Um all das zu erlernen, blieb aber nicht viel Zeit.

Ukraine-Krieg
Freiwillige bei einem Training der sogenannten Mozart-Gruppe, fotografiert im September 2022. © Juan Barreto / AFP

Ukraine-Krieg: „Sie sind mutig, aber eben ganz frisch“

Wie sieht das heute aus?

Die Zeit für das Training ist immer noch sehr kurz. Die Mehrheit der Rekruten ist nach westlichen Maßstäben ungeschult. Also nicht schlecht oder unzureichend ausgebildet, sondern wirklich ungeschult. Sie sind mutig, aber eben ganz frisch. Die Brigadekommandeure sind sich dessen bewusst, aber sie können ihre Leute nicht für eine längere Zeit von der Front abziehen. Russland greift ständig an. In Cherson und Charkiw wurden zuletzt zwar Erfolge erzielt, aber die unschöne Wahrheit ist, dass die Truppen aus Russland weiterhin auf dem Vormarsch sind.

Um die Lücke an Trainingsmöglichkeiten zu füllen, ist dann die sogenannte Mozart-Gruppe entstanden?

Ja. Ich habe mit einem kleinen Team ehemaliger Marines und Leuten aus der Armee, allesamt Spezialkräfte, eine Trainingsgruppe gebildet. Mit dieser Gruppe haben wir angefangen, Zivilisten für ihren Einsatz in der territorialen Verteidigung zu trainieren. Für die Ausbildung hatten wir teils nur fünf Tage. Das ist ein absurd kurzer Zeitraum. Wir haben in Gruppenstärken zwischen 120 und 150 Personen trainiert. Danach haben die Einheiten das Mozart-Patch erhalten, sind in ihre privaten Zivilwagen gestiegen und nach Butscha gefahren, um dort gegen russische Soldaten zu kämpfen. Das war ungefähr Ende März.

Was waren die größten Schwierigkeiten zu dieser Zeit?

Wir standen einer ganzen Reihe von Herausforderungen gegenüber. Die russischen Streitkräfte überzogen Kiew mit Raketen und Artilleriefeuer. Wir bauten Schießstände und Trainingsareale auf. Die angehenden Einheiten der territorialen Verteidigung mussten lernen, wie man schießt, sich im urbanen Gelände bewegt und im Einsatz kommuniziert. Doch jedes Mal, wenn wir ein solches Trainingsgelände eingerichtet hatten, bekam Russland davon Wind, entweder durch Kollaborateure oder ihre eigene Aufklärung. Die Folge war Artilleriefeuer auf unseren Standort. Es war eine sehr schwierige Situation.

Mozart-Gruppe: „Wir sind keine Söldner. Wir ziehen nicht für Geld in den Krieg“

Wie ging es nach der Befreiung Kiews Anfang April weiter?

Nachdem die Truppen aus der Hauptstadt vertrieben worden waren, zogen wir weiter in den Norden. Wir trainierten in Butscha, kurz nachdem der Ort befreit worden war. Dort wurden wir zu den ersten internationale Augenzeugen der Massaker an Zivilisten, die später weltweite Schlagzeilen machten. Dieser Anblick bestärkte uns darin, weiterzumachen. Natürlich wussten wir zuvor, dass die russischen Soldaten schlimme Dinge tun, aber niemand von uns hat mit einem solchen Ausmaß an Grausamkeit gerechnet. Bevor die Massaker entdeckt wurden, ging auch niemand davon aus, dass diese Gewalt so sehr institutionalisiert ist. Das war auch die Zeit, in der unsere Gruppe ihren Namen bekam.

Die Mozart Gruppe wird häufig in einem Atemzug mit der berüchtigten Wagner-Gruppe genannt. Sie haben in der Vergangenheit bereits mehrfach betont, dass der Vergleich unzutreffend ist. Wo liegt der Unterschied?

Wir sind keine Söldner. Wir ziehen nicht für Geld in den Krieg, wie es die Privatarmeen von Blackwater oder der Wagner-Gruppe tun. Wir sind reife, pensionierte Fachkräfte, von denen die meisten in ihren Dreißigern oder Vierzigern sind. Wir tragen keine Waffen und wir beteiligen uns nicht an Kämpfen. In der Ukraine liegt unser Fokus auf zwei Dingen. Wir bilden ukrainische Soldaten in der Nähe der Front aus und evakuieren Zivilisten, die sich noch in den Städten befinden. In diese Regionen bringen wir auch humanitäre Hilfsgüter.

Es gibt viele NGOs, die im Ukraine-Krieg aktiv sind. An welchem Punkt endet deren Job, wo beginnt Ihrer?

Alle anderen NGOs operieren maximal bis zum äußersten Punkt, der von der russischen Artillerie getroffen werden kann, aktuell beispielsweise in Kramatorsk im Donbass. Mit unseren Hilfsgütern versorgen wir zwischen 20 und 25 Prozent der Bevölkerung, die sich noch in Städten an der vordersten Front befindet. Derzeit unter anderem in Bachmut. Die Menschen in diesen Regionen suchen Schutz in Kellern. Ihnen fehlt es an Wasser, Nahrung, Strom und Heizungen. Diese Gebiete stehen unter ständigem Artilleriebeschuss. Wir sind die einzige Organisation, die in diese Gebiete fährt, um Hilfsgüter an die Menschen zu verteilen und diese gegebenenfalls zu evakuieren, wenn sie das wollen. Das machen wir bereits seit Beginn des Krieges.

Trainieren für den Ukraine-Krieg: Ausbildung im Donbass direkt hinter der Front

Wie sieht Ihr Trainingsprogramm heute aus?

Wir haben unser Training ständig angepasst und erweitert. Mittlerweile haben wir drei Teams an den Standorten Kiew, im Donbass und in der Nähe der südlichen Frontlinie. Im Donbass trainieren wir unter anderem die erste Präsidenten-Brigade, sowie die 58. und 93. Brigade. Das sind die Einheiten, welche die Hauptlast der Kämpfe tragen. Seit dem Beginn der Offensive im Donbass haben diese Einheiten zwischen 70 und 80 Prozent Opfer in ihren Reihen zu beklagen.

Was leistet die sogenannte Mozart-Gruppe neben ihren zwei Hauptaufgaben derzeit noch?

Seit kurzem bieten wir zivile Schulungen im Osten von Europa an. In erster Linie für Reporter und Journalisten, aber auch für Hilfsorganisationen. Das ist dann kein Waffentraining, sondern Hilfe zur Risikominimierung. Außerdem bieten wir Begleitschutz für Pressevertreter und zivile Organisationen in Frontnähe an, ebenfalls unbewaffnet. Aus Sicherheitsgründen ist hierfür ein Hintergrundcheck erforderlich, weshalb weitere Informationen über diese Trainings lediglich auf Anfrage herausgegeben werden. Diese Arbeit machen wir zum einen, um Geld für andere Missionen zu erwirtschaften, da wir sonst rein spendenfinanziert sind. Zum anderen ist es uns wichtig, dass Journalisten vor Ort sind. Wir sind überzeugt, dass die Presse der Wachhund jeder Demokratie ist. Die Welt soll sehen, was in der Ukraine passiert.

Zur Person

Andy Milburn hat 31 Jahre bei den US-Marines gedient. Die letzten zehn Jahre seiner Dienstzeit hat er im Kommando für Spezialoperationen verbracht. Er hat von 2016 an die Joint Special Operations Task Force im Irak kommandiert und wurde stellvertretender Befehlshaber des Special Operations Command Center. Dieses Kommando war für alle Spezialoperationen im Nahen Osten verantwortlich, die sich in erster Linie gegen den islamischen Staat richteten.

Seit seinem Ausscheiden aus der Armee im Jahr 2019 ist Milburn als Berater für militärische Angelegenheiten, mit einem Fokus auf Spezialoperationen, tätig. Heute ist er Leiter der Mozart-Gruppe.

Angriff auf Zivilbevölkerung im Ukraine-Krieg: Kein Versehen – sondern politisches Kalkül

Sie haben von einer Institutionalisierung der Gräueltaten, wie beispielsweise in Butscha gesprochen. Was bedeutet das im Ukraine-Krieg?

Die russischen Angriffe auf zivile Ziele sind nicht das, was wir unter Kollateralschäden verstehen. Sie passieren nicht durch Zufall. Es ist Teil der russischen Politik und es ist Teil der militärischen Strategie. Das gilt für die Massaker in Butscha ebenso wie für die Luft- und Artillerieschläge gegen zivile Ziele. In Mariupol wurden nach konservativen Schätzungen rund 20.000 Zivilisten getötet. Ganze Siedlungen wurden einfach vernichtet. Es gibt Berichte über institutionalisierte Folter. Das sind nicht ausschließlich Taten von Soldaten, die ihren Verstand verloren haben, das ist Teil eines institutionellen Ansatzes zur Kriegsführung. Die massiven Angriffe auf die Energieinfrastruktur kurz vor dem Winter sind ebenfalls Teil dieser Kriegsführung.

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Waffen für die Ukraine: „Eine Handvoll HIMARS-Systeme, sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein“

Der Westen leistet Unterstützung für die Ukraine. Unter anderem in Form von Trainingsprogrammen. Was wird derzeit am dringendsten benötigt?

Was in der Ukraine gebraucht wird, ist Ausbildung direkt vor Ort. Wir sind eine Organisation, die an dieser Stelle bisher nur Lücken schließen konnte. Eine institutionalisierte Ausbildung ist nötig. Wir könnten das beispielsweise im Namen der westlichen Regierungen tun oder gemeinsam mit der Nato. Mit ausreichender Finanzierung könnte jeder Brigade an der Front ein Ausbildungsteam zugewiesen werden. Das würde einen wirklichen Unterschied machen.

Der Westen liefert auch Waffen an die Ukraine. Ist die Unterstützung ausreichend?

Die Nato und der Westen müssen endlich ernsthaft darauf hinarbeiten, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Das meint nicht, dass Truppen in die Ukraine geschickt werden müssen. Aber die Waffenlieferungen, die wir bisher gesehen haben, beispielsweise eine Handvoll HIMARS-Systeme, sind lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein. Die westlichen Partner der Ukraine müssen anfangen, das Land mit diesen Systemen regelrecht zu fluten. Zudem braucht die Ukraine Langstreckenraketen und Drohnen mit hoher Reichweite. Ich finde es gut, dass die USA nun Patriot-Raketen liefern wollen, aber es braucht viel mehr davon. Es müssen nicht unbedingt die teuersten High-End-Systeme sein, aber es müssen genügend sein, um die gesamte Frontlinie und die Infrastruktureinrichtungen der Ukraine abzudecken.

Deutschland hat ebenfalls Waffensysteme an die Ukraine geliefert. In der Diskussion darum hat Bundeskanzler Olaf Scholz mehrmals darauf verwiesen, dass die ukrainischen Streitkräfte an Sowjetsysteme gewöhnt seien und deshalb ein Ringtausch nötig sei. Ist diese Argumentation aus ihrer Sicht schlüssig?

Das ist lächerlich. Die Ukrainerinnen und Ukraine sind technologisch sehr versiert. Sie sind im Kampf äußerst anpassungsfähig und das liegt nicht an ihrem Militär aus der Vorkriegszeit. Es liegt an der Flut junger Männer und Frauen, die sehr schnell lernen.

(Interview: Lucas Maier)

Hinweis der Redaktion: Dies ist der erste Teil des exklusiven Interviews von IPPEN.MEDIA mit Andy Milburn. Lesen Sie im zweiten Teil die Erfahrungen des Gründers der Mozart-Gruppe bei einem Besuch in Bachmut an der Front des Ukraine-Kriegs.

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